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Beitrag vom 13.01.2009
Stalking - Wenn Liebe zum Wahn wird
Henriette Jankow
Im Jahr 2007 wurden allein in Berlin 11.407 Fälle von Stalking gemeldet. Seit zwei Jahren gilt beharrliche Nachstellung als Straftat. Dennoch ist das Thema in der Öffentlichkeit kaum bekannt.
Stalking, keinesfalls ein Problem der Prominenz
Marita Kohl ist eine ganz normale Frau, Mitte 40. Sie hat eine Vorliebe für elegante Kleidung. Die Lachfalten lassen auf eine fröhliche Person schließen, aber ihre Augen sind müde. Sie erscheint nervös, fast ein bisschen schüchtern. Seit etwa einem Jahr stellt ihr ehemaliger Arbeitgeber ihr nach. Sie hat eine Weile gebraucht, um davon erzählen zu können. Das Gefühl der Scham klebte an ihr. Erst mit der Zeit wurde ihr klar, dass nicht sie es ist, die etwas Unrechtes tut.
Liebe und Macht
Es begann damit, dass ihr Arbeitgeber sich hartnäckig an sie heranmachte, er beteuerte ihr seine Liebe und spielte ihre Ängste gegen sie aus: "Er wusste, dass ich schon immer Existenzängste hatte. Ich habe immer gearbeitet und es war stets ein Horror für mich, meine Arbeit zu verlieren." Wenn sie nicht auf seine amourösen Angebote einging, entzog er ihr die Schichten. Sie redet leise, langsam, als gewänne die Bedrohung noch mehr an Gestalt, wenn sie darüber erzählt.
Irgendwann begann sie eine Beziehung mit diesem Mann. Schnell jedoch sei die Einsicht gefolgt, dass sie mit ihm weder leben könne noch wolle. Als sie Schluss machte, begann er ihr nachzustellen: "Er stand vor meinem Haus, hat mich ständig angerufen, nachts um halb drei. Dann hat er bei meinem Arzt und meinem neuen Arbeitgeber Geschichten erzählt, die nicht stimmen."
Stalking in Deutschland
Das Phänomen Stalking ist in Deutschland wenig erforscht - es gibt nur wenige Studien, die zudem wenig repräsentativ sind. Der Begriff stammt aus der englischen Jägersprache und bedeutet übersetzt soviel wie "Anpirschen". Nach einer Studie des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim sind zehn Prozent der Befragten bereits einmal im Leben gestalkt worden. In 80 Prozent der Fälle sind die Täter männlich, die Opfer weiblich.
Kränkungen als Ausgangspunkt
Die Frage, welches Motiv ihr ehemaliger Arbeitgeber hat, ihr nachzustellen, findet Marita Kohl unpassend: "Das können Sie eine Stalking-Betroffene nicht fragen. Ich weiß nicht, was in seinem Kopf vorgeht, warum er mir nachstellt... Weil er Macht ausüben will, Kontrolle haben will."
Den meisten Fällen der Nachstellung ging eine Beziehung zwischen StalkerIn und Opfer voraus. "Sehr häufig finden wir Kränkungen als Ausgangspunkt.", erklärt uns der Berliner Psychologe Wolf Ortiz-Müller, Mitarbeiter der Stalker-Beratungsstelle Stop Stalking Berlin. "Jemand trennt sich und der andere kann das gar nicht verstehen, erhält vielleicht nicht die Erklärung, die ihm helfen würde.", so Ortiz-Müller weiter. Menschen, die anderen nachstellen, fehlt die Fähigkeit loszulassen. "Sie glauben, immer noch ein Recht auf Zuwendung zu haben. Sie klammern sich an den oder die `Ex´, und je weiter sich diese zurückzieht, desto wütender werden sie. Dann schlägt `Werben´ oder `Rückeroberungsverhalten´ oft in Hass um, in den Wunsch, es der anderen `heimzuzahlen´.", erläutert der Psychologe.
Eine Täter-Typologie
Die australischen WissenschaftlerInnen Mullen, Pathé und Purcell haben sich mit dem psychologischen TäterInnenprofil von StalkerInnen auseinandergesetzt und eine Unterteilung in Gruppen vorgenommen. Demnach ist die Gruppe der zurückgewiesenen StalkerInnen durch ein Gefühl der Demütigung motiviert und stellt vorwiegend Menschen nach, mit denen sie eine Beziehung hatten. Beziehungssuchende StalkerInnen hingegen leiden unter einer Fehlwahrnehmung der Beziehungsbereitschaft des Opfers. Rachsüchtige StalkerInnen sehen sich selbst als Opfer und wollen sich durch penetrantes Nachstellen beispielsweise an ÄrztInnen oder AnwältInnen rächen. Die Motivation bei krankhaften StalkerInnen ist es zumeist, Kontrolle und Macht über das Opfer auszuüben. Auf Grund der angenommen psychopathischen Persönlichkeitsstruktur kann prinzipiell jede/r im Umfeld Opfer der StalkerIn sein.
Die Ausmaße des Stalkings
Es waren wahrlich keine Liebesbekundungen, die Marita Kohl von ihrem Stalker erhielt. Erst beschädigte er ihr Auto, dann drohte er damit, sie zu ermorden. Als Marita das erste Mal zur Polizei ging, stieß sie auf wenig Hilfe: "Die haben zwar eine Anzeige aufgenommen, aber keinen Strafantrag gestellt.", erzürnt sich die 44-jährige. Sie wurde auch nicht darüber belehrt, dass ein solcher Strafantrag gestellt werden muss, wenn dem Vergehen nachgegangen werden soll.
Die rechtliche Lage in Deutschland
Im März 2007 wurde das Delikt des Stalkings unter dem Nachstellungsparagraphen §238 ins Strafgesetzbuch (StGB) aufgenommen. Demnach wird eine Person, die einer anderen unbefugt nachstellt, also beharrlich die räumliche Nähe des Opfers aufsucht oder mit der Verletzung der Gesundheit droht und dadurch die Lebensgestaltung des Opfers "schwerwiegend beeinträchtigt, […] mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft." Gerät das Leben des Opfers oder einer Angehörigen in Gefahr, fällt die Strafe entsprechend höher aus. Nach der polizeilichen Kriminalstatistik wurden 11.401 Fälle im Jahr 2007 gemeldet, die dem Tatbestand der Nachstellung gemäß §238 entsprechen. Die Verabschiedung des Paragraphen sorgte für einen Anstieg in der Meldung der Vergehen gegen die persönliche Freiheit um 9,6 Prozent im Vergleich zum Jahr 2006.
§238 – ein Fortschritt
Die Berliner Journalistin Susanne Schumacher beschäftigt sich auf Grund einer persönlichen Erfahrung seit Mitte der 1990er Jahre mit dem Thema Stalking. Unter dem Titel "Stalking - geliebt, verfolgt, gehetzt. Ein Ratgeber für Betroffene" erschien eine aktualisierte Auflage ihres Buches 2004. Auf ihrer Homepage www.liebeswahn.de hilft sie Stalking-Betroffenen mit wichtigen Ratschlägen und Informationen zum Umgang mit ihrer Situation. Als der §238 erarbeitet wurde, saß sie als Expertin im Bundesrechtsausschuss. Sie sieht die Einführung des Gesetzes als einen Fortschritt:
"Grundsätzlich halte ich das Gesetz für sehr sinnvoll, weil Stalking ja nicht nur eine Straftat, beispielsweise im Sinne einer Sachbeschädigung meint, sondern es passieren verschiedene Straftaten über einen langen Zeitraum.", berichtet Schumacher in einem Telefon-Interview mit AVIVA-Berlin. In der Vergangenheit hätten die RichterInnen lediglich die schlimmsten Vergehen bestraft. Im Durchschnitt hätten die Stalking-Fälle jedoch eine Dauer von 24 bis 48 Monaten, so Schumacher. Eine punktuelle Ahndung der Straftaten entspricht also nicht der Schwere des Delikts. "Wenn jemand permanentes Stalking erlebt, wird die Strafe eines Ordnungsgeldes dem erlebten Psychoterror nicht gerecht.", führt die Expertin fort und weist damit auf die bisherige Handlungsunsicherheit seitens der Polizei und der Justiz hin. Die Einführung des §238 gebe hingegen eine Rechtssicherheit, mit der schon frühzeitig interveniert werden könne, so Schumacher weiter.
Ein Gesetz, das Abhilfe schafft?
Die Wirksamkeit dieses Gesetzes ist jedoch nicht unumstritten. Stefanie Thieme, Berliner Strafrechtlerin, kritisiert die Tatsache, dass die Verfolgung von Nachstellungsdelikten vor allem in der Hand der Betroffenen liegt: "Eine effiziente Verbesserung des staatlichen Opferschutzes kann aus meiner Sicht nicht damit erreicht werden, einerseits einen neuen Straftatbestand wie den § 238 StGB zu schaffen, die Verfolgung und Bestrafung des Täters aber nicht als unbedingte Aufgabe dem Staat aufzuerlegen, sondern es im Einzelfall dem Opfer zu überlassen, ob er den Privatklageweg beschreitet oder nicht."
Problematisch an der deutschen Gesetzeslage ist, dass Stalking zunächst nur auf Strafantrag des Opfers verfolgt werden kann, wenn die Staatsanwaltschaft nicht ein "besonderes öffentliches Interesses" bejaht. Befindet die Staatsanwaltschaft, dass das Opfer unzumutbare Beeinträchtigungen seines täglichen Lebens erleiden muss, kann der Weg über die Strafverfolgungsbehörden gegangen werden. Bis diese jedoch Kenntnis von dem Fall erlangen, muss sich das Opfer auf dem Privatklageweg durchschlagen – und zunächst auch alle anfallenden Rechtskosten tragen.
Ein langer Kampf
Papier ist geduldig. Mittlerweile liegt zwar auch der Fall von Marita Kohl der Staatsanwaltschaft zur strafrechtlichen Verfolgung vor, doch der Stalker ist hartnäckig und lässt sich auch nicht von der Einstweiligen Verfügung abschrecken, die sie gegen ihn erwirkt hat. Inzwischen hat sie wegen Verstößen gegen die Auflagen und das Gewaltschutzgesetz 13 Anzeigen gegen `ihren´ Stalker erstattet.
Das Gefühl der Unfreiheit
Sie musste lernen, sich durchzusetzen und auf ihre Rechte zu bestehen, sich nicht von der Polizei wegschicken zulassen. Was tun Frauen, die nicht so selbstbewusst sind und sich durchzusetzen wissen, wundert sie sich? Marita redet von sich als Betroffene, das Wort Opfer mag sie nicht. Dennoch hat ihr die ganze Situation zugesetzt. Am schlimmsten ist das permanente Gefühl der Unfreiheit: "Man hat nicht Angst vor einem Angriff, davor, dass man geschlagen wird, sondern davor, dass man nicht frei ist." Sie lächelt müde. "Ganz schlimm ist das Gefühl, dass jemand über Ihr Leben entscheidet. Dadurch, dass er da ist, entscheidet er auch über Ihre Nervosität oder Ihre schlechte Laune."
Gesundheitliche Folgen
Die meisten Stalking-Betroffenen erleiden körperliche und seelische Beschwerden. Sie leben mit Angstzuständen und depressiven Verstimmungen, die sich zu einer ernst zunehmenden Depression entwickeln können. Die psychische Belastung wirkt sich in den meisten Fällen auch auf die körperliche Gesundheit und das Sozialverhalten aus. In einigen Fällen tragen die Betroffenen derartige Schäden davon, dass sie arbeitsunfähig werden.
Soziale Isolation und die Notwendigkeit, sich selbst zu helfen
Marita Kohl hat eine neue Arbeit gefunden. Doch sozial isoliert hat sie sich trotzdem. "Sie treffen sich nicht mit Freunden zum Tratschen und Lachen, sondern verkriechen sich, weil Sie schlechte Laune, Angst haben. Weil Sie heulen, oder weil Sie sich nicht so fühlen, wie Sie sich sonst fühlen würden." Zudem hat sie gar keine Zeit, sich zu amüsieren. Die Sachbeschädigungen, die ihr Stalker verursacht, die Vorsichtsmaßnahmen, die sie ergreifen muss, das alles ist auch eine finanzielle Belastung. Also muss sie mehr arbeiten.
Von der Polizei fühlt sie sich im Stich gelassen. Alles, was sie über Stalking weiß, hat sie selbst in Erfahrung gebracht: "Man muss sich selbst helfen." Sie hat sich im Internet belesen, Informationen über ihre rechtlichen Möglichkeiten gesucht, ein Forum gefunden, in welchem sie sich mit anderen Betroffenen austauschen konnte. Die Expertise zum Thema Stalking ist in Deutschland sehr rar gesät.
Hilfe für beide Seiten
Eine Beratungsstelle für Stalking-Betroffene in Berlin befindet sich derzeit im Aufbau. Susanne Schumacher will ihr Wissen in Zusammenarbeit mit der Diakonie an Betroffene weitergeben und mit ihnen gezielte Interventionsstrategien erarbeiten. Im Februar 2009 soll sie eröffnet werden.
Seit April 2008 gibt es in Berlin-Steglitz bereits eine Beratungsstelle für Stalker. Bei Stop Stalking Berlin arbeiten PsychotherapeutInnen, SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen mit Menschen, die anderen Menschen nachstellen, gezielt daran, wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das Konzept beruht auf der Freiwilligkeit der Stalker, ihr Verhalten zu ändern und soll so zum Opferschutz beitragen: "Ein Opfer ist erst dann nachhaltig geschützt, wenn der Täter sein Nachstellungs-Verhalten beendet.", führt Wolf Ortiz-Müller an. "Daraus ergibt sich für uns die logische Schlussfolgerung, dass man mit der Person, die stalkt, arbeiten muss." Ein halbes Jahr nach Gründung der Beratungsstelle hatten die MitarbeiterInnen 340 Kontakte mit StalkerInnen. "Daraus wurden 60 Beratungsfälle, Menschen, mit denen wir intensiver gearbeitet haben" berichtet der Psychologe. Das Projekt ist in Deutschland einzigartig und zieht auch die Aufmerksamkeit der Nachbarländer auf sich. Nicht alle Menschen, die sich dort einfinden, haben Stop Stalking ganz aus freien Stücken aufgesucht. "Viele werden uns auch durch die Berliner Polizei vermittelt oder auch durch Rechtsanwälte, also in Fällen, wo bereits eine polizeiliche Ermittlung oder juristische Verfolgung greift."
Pragmatismus statt Hysterie
Viel Verständnis kann Marita Kohl für dieses Konzept nicht aufbringen. Sie hielte mehr davon, wenn man sich primär um die Betroffenen, nicht um die Täter kümmern würde und spricht mit der Stimme einer Einzelkämpferin. Ihre Art, der derzeitigen Situation zu begegnen, ist es, sie zunächst zu akzeptieren. Tagsüber kann sie inzwischen mit der Tatsache, dass ihr jemand nachstellt, und sich so ihr Leben zu eigen macht, ganz gut umgehen: "Ich versuche so pragmatisch wie möglich damit umzugehen, mich nicht hysterisch machen zu lassen, das nicht so sehr an mich herankommen zu lassen." Aber wenn sie schläft, entgleiten ihr die Gefühle, sie bekommt Alpträume. Vor kurzem hat sie eine Traumatherapie begonnen, "um zumindest schlafen zu können".
Das Bewusstsein der Öffentlichkeit schärfen
Die Hoffnung, "dass den Leuten klar wird, dass es nicht eine Sache ist, die nur Prominente betrifft", bewegt Marita dazu, ihre Geschichte zu erzählen. Sie wünscht sich, dass die Behörden, Schulungen zum Thema Stalking besser wahrnehmen. Auch die Autorin Susanne Schumacher hält die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für einen entscheidenden Aspekt. Eine Form von Runder Tisch, an dem sich verschiedene Institutionen treffen, gehöre ebenso dazu wie die Weiterbildung der BeamtInnen.
"Es gibt so viele Frauen, die betroffen sind und deren Fälle eingeschlafen sind. Sie laufen irgendwo durch Berlin und kämpfen mit ihrem Stalker." sagt Marita bedächtig. Man sieht ihr an, dass sie das Kämpfen leid ist, doch aufgeben wird sie nicht.
Lesen Sie außerdem auf AVIVA-Berlin unsere hier in Auszügen erschienenen Interviews mit der Journalistin und Stalking-Expertin Susanne Schumacher, dem Psychologen Wolf Ortiz-Müller, dem Mitarbeiter der Stalker-Beratungsstelle Stop Stalking Berlin und der Strafrechtlerin Stefanie Thieme.
Weitere Information, Hilfe und Beratung:
Die Arbeitsgruppe Stalking an der TU Darmstadt beschäftigt sich mit der Forschung des Themas und wertet sowohl Studien über StalkerInnen als auch Stalking-Betroffene aus. Die Untersuchungsergebnisse sollen zu einem späteren Zeitpunkt online erscheinen unter www.stalkingforschung.deAuf ihrer Website gibt die Berliner Journalistin Susanne Schumacher, die zum Thema Stalking publiziert, wertvolle Informationen und hilfreiche Tips für Stalking-Opfer: www.liebeswahn.deDas Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat eine Beratungsbroschüre zum Thema Stalking herausgegeben: Stalking: Grenzenlose Belästigung – Eine Handreichung für die BeratungDas zentrale Institut für seelische Gesundheit in Mannheim bietet Hilfe für Betroffene: www.zi-mannheim.deIn diesem geschlossenen Forum können sich Betroffene über ihr Schicksal austauschen und hilfreiche Tipps von den ModeratorInnen erhalten: www.stalkingforum.deDie Polizei-Beratung hat unter anderem ein Informationsvideo zum Thema Stalking erstellt: www.polizei-beratung.deZur offiziellen Seite des Bundesministeriums für Justiz zum Thema Stalking gelangen Sie hier: www.bmj.bund.de